Das Buch der Geister

Allan Kardec

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KAPITEL IX
VIII. DAS GESETZ DER GLEICHHEIT

1. Natürliche Gleichheit. – 2. Ungleichheit der Anlagen. – 3. Soziale Ungleichheiten. – 4. Ungleichheit des Reichtums.
– 5. Prüfungen des Reichtums und der Armut. – 6. Gleichheit der Rechte des Mannes und der Frau.
– 7. Gleichheit vor dem Grab.


Natürliche Gleichheit.

803. Sind vor Gott alle Menschen gleich?

„Ja, alle streben demselben Ziel zu und Gott gab seine Gesetze für alle. Ihr sagt so oft `die Sonne scheint für alle´ und damit sprecht ihr eine größere Wahrheit aus, als ihr denkt.“

Alle Menschen sind denselben Naturgesetzen unterworfen. Alle werden in derselben Schwachheit geboren, leiden dieselben Schmerzen und der Leib des Reichen vergeht wie der des Armen. Gott gab somit keinem Menschen eine durch die Natur gesetzte Überlegenheit weder durch die Geburt noch durch den Tod: alle sind vor ihm gleich.

Ungleichheit der Anlagen.

804. Warum gab Gott nicht allen Menschen dieselben Anlagen?

„Gott schuf alle Geister gleich; aber jeder von ihnen hat mehr oder weniger gelebt, folglich mehr oder weniger erfahren. Der Unterschied liegt im Grad ihrer Erfahrung und in ihrem Willen, der frei wählen kann. Daher vervollkommnen sich die einen rascher, was ihnen wiederum verschiedene Anlagen verleiht. Die Mischung der Anlagen ist notwendig, damit jeder zu den Absichten der Vorsehung mitwirken kann innerhalb der Grenzen der Entwicklung seiner leiblichen und geistigen Kräfte. Was der eine nicht tut, tut der andere. So hat jeder seine nützliche Aufgabe. Da ferner alle Welten in wechselseitiger Verpflichtung untereinander stehen, so müssen wohl die Bewohner der höheren und meistenteils vor der eurigen geschaffenen Welten bei euch inkarnieren, um euch ein Beispiel zu geben.“ (361.)

805. Bewahrt sich der Geist, wenn er von einer höheren in eine niedrigere Welt herabsteigt, die Vollkraft seiner erworbenen Fähigkeiten?

„Ja, wir sagten es schon, der fortgeschrittene Geist geht nicht mehr rückwärts. Er kann in seinem Zustand als Geist sich eine starrere Hülle oder eine zweifelhaftere, unsicherere Stellung als seine frühere wählen, aber das alles stets nur, damit es ihm zur Lehre dient und ihn im Fortschreiten unterstützt.“ (180.)

So stammt die Verschiedenheit der Anlagen der Menschen nicht aus der inneren Natur ihrer Erschaffung, sondern aus dem Grad der Vervollkommnung, den die in ihnen inkarnierten Geister erreicht haben. Gott schuf somit nicht eine Ungleichheit der Befähigungen, sondern er ließ es zu, dass die verschiedenen Entwicklungsgrade miteinander in Berührung stehen, auf dass die mehr Fortgeschrittenen dem Vorwärtskommen der weiter Zurückgebliebenen helfen können und ebenso, damit die Menschen, die einander gegenseitig bedürfen, das Gesetz der Nächstenliebe erkennen, das sie einigen soll.

Soziale Ungleichheiten.

806. Ist die Ungleichheit der gesellschaftlichen Stellungen und Verhältnisse ein Naturgesetz?

„Nein, sie ist das Werk des Menschen und nicht Gottes.“

806a. Wird dieselbe einst verschwinden?

„Nur Gottes Gesetze sind ewig. Siehst du dieselbe nicht jeden Tag sich etwas mehr verwischen? Diese Ungleichheit wird zusammen mit der Vorherrschaft des Hochmutes und des Egoismus verschwinden. Nur die Ungleichheit des Verdienstes wird bleiben. Der Tag wird kommen, wo die Glieder der großen Familie der Kinder Gottes sich nicht mehr als von mehr oder weniger reinem Blut ansehen werden. Nur der Geist ist mehr oder weniger rein und das hängt nicht von der gesellschaftlichen Stellung ab.“

807. Was ist von denen zu halten, die ihre höhere soziale Stellung dazu missbrauchen, den Schwachen zu ihrem Vorteil zu unterdrücken?

„Diese bringen Schande über sich: Wehe ihnen! Auch an sie wird die Reihe kommen unterdrückt zu werden und sie werden zu einem Dasein wiedergeboren werden, in welchem sie alles, was sie erdulden ließen, selbst erdulden werden.“ (684.)

Ungleichheit des Reichtums.

808. Hat die Ungleichheit des Reichtums nicht ihre Quelle in der Ungleichheit der Fähigkeiten, wodurch den einen mehr Mittel zum Erwerb als den anderen zufallen?

„Ja und nein. Und die Arglist und der Diebstahl, was hältst du davon?“

808a. Der ererbte Reichtum ist doch nicht die Frucht schlechter Leidenschaften?

„Woher weißt du das? Gehe an die Quelle und sieh, ob sie immer rein ist. Weißt du, ob er nicht ursprünglich die Frucht einer Beraubung oder einer Ungerechtigkeit gewesen ist? Aber ohne von seiner Entstehung zu reden, welche eine schlechte gewesen sein mag, meinst du, dass die Begierde selbst nach den wohlerworbenen Gütern, das heimliche Sehnen, schneller in ihren Besitz zu gelangen, löbliche Gefühle sind? Das ist es, was Gott richtet und ich versichere dir, dass sein Gericht ein strengeres ist, als das der Menschen.“

809. Wenn ein Vermögen ursprünglich übel erworben wurde, sind dann die, welche es erben, dafür verantwortlich?

„Ohne Zweifel sind sie nicht für das verantwortlich, was andere etwa taten, umso weniger, als sie dies vielleicht nicht einmal wissen. Bedenke aber, dass ein Vermögen oft einem Menschen zufällt, nur damit er Gelegenheit hat, eine Ungerechtigkeit wiedergut zu machen. Wohl ihm, wenn er das einsieht! Tut er das im Namen desjenigen, der die Ungerechtigkeit begangen hat, so wird allen beiden für den Schadenersatz Rechnung getragen werden, denn oft ist es der Letztere, der ihn veranlasste.“

810. Man kann, ohne sich vom Gesetz zu entfernen, in einer mehr oder weniger gebilligten Weise über seine Güter verfügen. Ist man nun nach dem Tod für die getroffenen Verfügungen verantwortlich?

„Jede Handlung trägt ihre Früchte. Die der guten Handlungen sind süß, die der anderen sind immer bitter, immer, wisset es nur wohl.“

811. Ist eine bedingte Gleichheit des Reichtums überhaupt möglich und hat eine solche jemals existiert?

„Nein, sie ist nicht möglich: Die Verschiedenheit der Fähigkeiten und Charakteren widerstreitet dem.“

811a. Aber es gibt doch Menschen, die da meinen, hierin liege die Arznei für die Übel der Gesellschaft. Was denkt ihr davon?

„Das sind Systemmacher oder neidische Ehrgeizige. Sie sehen nicht ein, dass ihre geträumte Gleichheit sehr bald durch die Macht der Dinge aufgehoben würde. Bekämpft den Eigennutz, der ist euer soziales Grundübel und kümmert euch nicht um Chimären.“

812. Wenn die Gleichheit des Reichtums nicht möglich ist, verhält es sich dann ebenso mit derjenigen des Wohlergehens?

„Nein, aber letzteres ist relativ und jeder könnte seiner teilhaftig werden, wenn man sich recht verstände..., denn das wahre Wohlergehen besteht darin, dass einer seine Zeit nach seinem eigenen Geschmack anwenden kann und nicht zu Arbeiten gezwungen wird, an denen er keinen Gefallen hat. Da nun jeder andere Fähigkeiten besitzt, so bliebe keine nützliche Arbeit mehr zu tun übrig. Nur der Mensch will das überall vorhandene Gleichgewicht stören.“

812a. Ist es möglich, sich zu verständigen?

„Die Menschen werden sich verständigen, wenn sie das Gesetz der Gerechtigkeit einhalten werden.“

813. Es gibt Leute, die durch ihre eigenen Fehler in Entbehrung und Elend fallen. Da kann doch die Gesellschaft nicht dafür verantwortlich sein?

„Doch; wir sagten schon einmal, gerade die Gesellschaft ist oft die erste Ursache solcher Fehler. Und hat sie übrigens nicht über die moralische Erziehung zu wachen? Oft ist es die schlechte Erziehung, welche ihr Urteil fälschte, statt die schädlichen Neigungen bei ihnen im Keim zu ersticken.“ (685.)

Prüfungen des Reichtums und der Armut.

814. Warum gab Gott dem einen Reichtum und Macht und dem andern Armut und Elend?

„Um einen jeden auf verschiedene Weise zu prüfen. Übrigens waren es, wie ihr wisst, die Geister selbst, welche das eine oder das andere wählten und oft unterliegen sie dann.“

815. Welche der beiden Prüfungen ist für den Menschen mehr zu fürchten, die des Unglücks oder die des Glücks?

„Beide sind gleich sehr zu fürchten. Das Elend reizt zum Murren gegen die Vorsehung, Glück und Reichtum zu allen Ausschweifungen.“

816. Wenn der Reiche mehr Versuchungen hat, besitzt er nicht auch mehr Mittel, das Gute zu tun?

„Das eben tut er nicht immer. Er wird egoistisch, hochmütig, unersättlich, seine Bedürfnisse wachsen mit seinem Reichtum und niemals glaubt er für sich allein genug zu haben.“

Die hohe Stellung in dieser Welt und das Ansehen gegenüber seinesgleichen sind ebenso große und schlüpfrige Prüfungen, wie das Unglück. Denn je reicher und mächtiger einer ist, desto mehr Verpflichtungen hat er zu erfüllen und desto größer sind die Mittel das Gute und das Böse zu tun, Gott prüft den Armen durch die Ergebung und den Reichen durch den Gebrauch, den er von seiner Macht und von seinen Gütern macht. Reichtum und Macht lassen alle Leidenschaften entstehen, die uns an den Stoff fesseln und von der geistigen Vervollkommnung entfernen. Darum sprach Jesus: „Wahrlich, ich sage euch, ein Kamel wird leichter durch ein Nadelöhr gehen, als ein Reicher in das Himmelreich eingehen.“ (266.)

Gleichheit der Rechte des Mannes und der Frau.

817. Sind Mann und Frau vor Gott gleich und haben sie dieselben Rechte?

„Schenkte Gott nicht beiden die Erkenntnis des Guten und des Bösen und die Fähigkeit fortzuschreiten?“

818. Woher stammt die niedrigere moralische Stufe der Frau in gewissen Gegenden?

„Von der ungerechten und grausamen Herrschaft des Mannes über die Frau. Das ist eine Folge der sozialen Einrichtungen und des Missbrauchs der Kraft gegenüber der Schwäche. Bei den in moralischer Beziehung wenig fortgeschrittenen Menschen tritt an die Stelle des Rechts die Gewalt.“

819. Zu welchem Zweck ist die Frau physisch schwächer, als der Mann?

„Damit ihm besondere Verrichtungen zugewiesen werden. Der Mann, als der stärkere, ist zu harten Arbeiten geeignet, die Frau zu leichteren und beide sollen sich daher gegenseitig helfen, die Prüfungen eines Lebens voll Schmerz und Bitterkeit durchzumachen.“

820. Setzt seine physische Schwäche die Frau nicht naturgemäß in Abhängigkeit vom Mann?

„Gott gab den einen Stärke, damit sie den Schwachen beschützen, nicht um ihn zu unterjochen.“

Gott hat die physische Veranlagung eines jeden Wesens seinen ihm eigentümlichen Verrichtungen angepasst. Wenn er der Frau eine geringere physische Kraft gab, so beschenkte er sie gleichzeitig mit einem feineren Empfinden in Bezug auf die Zartheit ihrer Mutterpflichten und die Schwachheit der ihrer Sorge anvertrauten Wesen.

821. Haben die Verrichtungen, zu denen die Frau von der Natur bestimmt ist, eine ebenso hohe Wichtigkeit wie diejenigen, die dem Manne zugefallen sind?

„Ja, und eine noch höhere: die Frau ist es, das dem Menschen den ersten Begriff vom Leben gibt.“

822. Wenn die Menschen gleich sind vor Gottes Gesetz, müssen sie es auch vor dem menschlichen Gesetze sein?

„Der erste Grundsatz der Gerechtigkeit heißt: Tut einem andern nicht, was ihr euch selbst nicht getan sehen möchtet.“

822a. Soll demnach eine Gesetzgebung, um völlig gerecht zu sein, die Gleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau aussprechen?

„Der Rechte, – ja, der Verrichtungen, – nein. Jeder soll seinen ihm angewiesenen Platz ausfüllen: Der Mann beschäftige sich mit dem Äußeren, die Frau mit dem Inneren; jedes nach seiner Anlage. Das menschliche Gesetz soll, um gerecht zu sein, die Gleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau aussprechen: jedes dem einen oder dem anderen eingeräumte Vorrecht widerspricht der Gerechtigkeit. Die Emanzipation der Frauen entspricht dem Fortschritt der Zivilisation, deren Unterdrückung der Barbarei. Die Geschlechter existieren übrigens nur wegen der physischen Veranlagung. Da die Geister das eine wie das andere wählen können, so gibt es in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen ihnen, folglich sollen beide dieselben Rechte genießen.“

Gleichheit vor dem Grab.

823. Woher kommt der Wunsch, sein Gedächtnis durch ein Grabmal zu verewigen?

„Es ist die letzte Tat des Hochmuts.“

823a. Ist aber die Kostbarkeit der Grabmäler nicht oft mehr Sache der Verwandten, die den Verstorbenen ehren wollen, als des Verstorbenen selbst?

„Hochmut der Verwandten, die sich selbst verherrlichen möchten. 0h!; ja, man macht solche Kundgebungen gar nicht immer um des Toten willen: Aus Eigenliebe geschieht es und um der Welt willen und um mit ihrem Reichtum zu prahlen. Meinst du, das Andenken an ein geliebtes Wesen sei weniger dauerhaft in dem Herzen des Armen, weil er nur eine Blume auf dessen Grab zu legen hat? Meinst du, der Marmor rette denjenigen vor der Vergessenheit, der unnütz über die Erde wandelte?“

824. Tadelt ihr unbedingt den Pomp der Leichenbegängnisse?

„Nein, wenn er das Andenken eines rechtschaffenen Mannes ehrt, so ist er gerecht und gibt ein gutes Beispiel.“

Das Grab ist das Stelldichein aller Menschen. Hier endigen unbarmherzig alle menschlichen Unterschiede. Vergeblich sucht der Reiche sein Andenken durch pompöse Grabmäler zu verewigen: die Zeit wird sie zerstören wie den Leib; so will es die Natur. Die Erinnerung an seine guten und bösen Handlungen wird weniger vergänglich sein, als sein Grab. Die Pracht des Leichenbegängnisses wird ihn nicht von seinen Schändlichkeiten reinwaschen und wird ihn um keine Sprosse auf der Stufenleiter der Geister weiterbringen. (320 ff.)